Mathias Lindner, 1965 in Stralsund geboren. Schrift- und Grafikmalerlehre und Arbeit in Schwerin. 1991-1998 Studium der Kunstgeschichte, Soziologie, Philosophie (Magister Artium)und Kulturmanagement(Diplom) in Berlin. 1996 bis 2003 Mitglied undProjektleitung der Arbeitsgruppe U2-Alexanderplatz. 1999-2002 Arbeit an der Kunsthalle Rostock und dem Neuen Kunsthaus Ahrenshoop.Seit 2003 Direktor der Neuen Sächsischen Galerie Chemnitz undGeschäftsführer des Neue Chemnitzer Kunsthütte e.V.. Lebt und arbeitetin Chemnitz und Berlin.
Christoph Bannat (C.B.): Wie sind Sie auf den U2-Alexanderplatzwettbewerb aufmerksam geworden und wie sind Sie zur U2-Arbeitsgruppe gekommen?
Mathias Lindner (M.L.): Die Kunst auf dem Bahnsteig kannte ich vom täglichen Weg zur Uni. Das Projekt als solches lernte ich erst während meines Kulturmanagementstudiums kennen. Innerhalb eines Praxisseminars entstand eine enge Zusammenarbeit mit der AG, mit dem Ziel, dem Projekt mehr Bekanntheit zu verschaffen und ergänzende Finanzierungsquellen für den Katalogdruck zu erschließen.
C.B.: In welcher Funktion hatten Sie beim U2-Alexanderplatzprojekt angefangen?
M.L.: Nach Abschluss des Seminars bat mich die damalige Organisatorin der AG, Barbara Putbrese, in der AG mitzuarbeiten. Im ersten Jahr, es war wohl 1995, schnupperte ich hinein, übernahm dann aber bald die haushälterische Verantwortung.
C.B.: Was war Ihr erster Eindruck vom Wettbewerb?
M.L.: Das Projekt wurde mein erster intensiver Berührungspunkt mit der aktuellen bildenden Kunst in Berlin. Alles war neu, spannend, überraschend. Die AG, der damals fast ausschließlich Künstler angehörten, diskutierte leidenschaftlich und mit viel Humor das vorzugebende Thema. Die Vielzahl und Vielfalt der später entgegengenommenen Einreichungen machten die breite Wahrnehmung des Projekts und seine Bedeutung für Berliner Künstlerinnen und Künstler deutlich. Ich fühlte mich der Sache zunächst nicht gewachsen.
C.B.: Welches Verhältnis hatten Sie, ganz allgemein gesprochen, zu Kunst, als Sie mit dem Projekt angefangen hatten?
M.L.: Ich fühlte mich in ihr zuhause, das kam schon vom Elternhaus her. Aber die Bezugspunkte dort waren eher die alte Kunst bis zur klassischen französischen Moderne und der Stuttgarter Schule um Baumeister. Im Kunstgeschichtsstudium brach die Beschäftigung mit der Minimal Art ab. Aktuelle Kunst kannte ich natürlich aus Ausstellungsbesuchen seit den 80er Jahren, notgedrungen aber vor allem die Ostberliner.
C.B.: Welche Hoffnung haben Sie mit dem Projekt verbunden?
M.L.: Da ich zunächst aus reiner Neugierde in das Projekt hineingerutscht war, hoffte ich für mich auf eine deutliche künstlerische Horizonterweiterung und praktische Lerneffekte im Projektmanagement. Zugleich wurde es wichtig, das Projekt gegen Anfeindungen als abzuwickelndes Ostprojekt zu schützen und seinen einmaligen Charakter für ganz Berlin zu retten. Der offene Wettbewerb holte ungesehene künstlerische Handschriften ans Licht, gab ihnen eine Chance, wie sie im institutionellen Kulturbetrieb kaum bestehen. Dieser letzte offene Wettbewerb ist ein Wert an sich.
C.B.: Wie gestaltete sich die Arbeit zum Senat und innerhalb der Gruppe?
M.L.: Das Projekt stand oft auf der Kippe. So wurden die Kontakte und Gespräche mit der Senatsverwaltung enger. Strukturen mussten verändert werden, nachdem 1998 ca. 1600 Arbeiten eingereicht worden waren. Die konnte eine Jury nicht angemessen bewältigen. Da wurde die Senatsbauverwaltung mit ihren Erfahrungen aus den großen Berliner Bauwettbewerben unser Gesprächspartner. Die Gruppe hat in diesen Jahren große Krisen durchgemacht. Neben den formalen Wettbewerbsfragen stand natürlich immer auch die Offenheit des Kunstverständnisses generell zur Debatte. Da gingen dann die Gräben zwischen den unterschiedlichen Lebenserfahrungen in Ost und West weit auf. Die Arbeit innerhalb der AG intensivierte sich extrem, aber der spielerische Charakter der Debatten um interessante und relevante Themen wich zunehmend formalen Fragen. Die inhaltliche Herausforderung mussten sich die Künstler fortan selber suchen.
C.B.: Wie entwickelte sich Ihre Arbeit in Bezug auf die Gruppe?
M.L.: Mit den Krisen im Projekt wechselten auch die Mitglieder der AG stark. Plötzlich war ich der Erfahrenste und so lag es nahe, die Leitung der AG zu übernehmen, was hieß, die tagtägliche Kleinarbeit und die Gesamtorganisation zu machen.
C.B.: Welches Verhältnis hatten Sie zur Form eines offenen Wettbewerbs, der ja in der Berliner Kunstlandschaft einen Einzelfall darstellt?
M.L.: Wie schon vorhin gesagt, mir scheint er ein Wert an sich zu sein, und demokratisch, weil er die Kunstwerke vor die Künstlernamen stellt. Der Wettbewerb ist Künstlerförderung par excellence, wie ich sie aus der Verantwortung der Kommune heraus verstehe.
C.B.: Wie sah es mit der Beschränkung des Wettbewerbs auf Berlin aus?
M.L.: Ich glaube, ursprünglich war es so. Aber Nachweise haben wir nie gefordert.
C.B.: Wie viele Leute bewarben sich durchschnittlich?
M.L.: Die Bewerberzahlen stiegen ständig, solange die Aufgabe sich auf die Gestaltung einer Hintergleiswerbefläche beschränkte. Zuletzt, wie gesagt, gab es 1600 Einreichungen. Als wir die Aufgaben erweiterten und auch gewünscht wurde, von den Tafeln weg in den Bahnsteigraum hineinzugehen, sanken die Zahlen auf gut 200. Wie es heute ist, kann ich nicht sagen.
C.B.: Können Sie etwas zu den erschwerten Wettbewerbsbedingungen sagen?
M.L.: Es bestand die Erwartung, den gesamten Bahnsteigraum für die Kunst zu nutzen. Dafür stand dann auch ein entsprechend höheres Budget zur Verfügung. Statt der 32 sollten jetzt nur noch 2-6 Künstler innerhalb eines Jahres ihre Ideen realisieren können. Wir versprachen uns pointierte Projekte, drastische Wechsel und einen künstlerischen Mittelreichtum, wie er sich im aktuellen Kunstbegriff versammelt hat.
C.B.: Wie sah die Arbeit mit der NGBK aus?
M.L.: Die NGBK ist Träger dieses Projektes, zugewiesen vom Senat. Es ist nicht aus ihr hervorgegangen und besaß so innerhalb der basisdemokratischen Struktur einen Sonderstatus. Es ging zunächst nur um eine ordentliche Mittelverwaltung und Abrechnung. Dies gelang dank der überaus kooperativen Haltung von Hartmut Reith, seinerzeit Buchhalter im Verein, pannenfrei und unkompliziert für die AG.
Mit den Gefährdungen des Projektes und dem beginnenden Strukturwandel nahm die Bedeutung der Geschäftsstelle, namentlich Leonie Baumanns, als inhaltlicher Gesprächspartnerin und Vertreterin des Projektes nach außen zu. Das lief naturgemäß nicht immer reibungslos.
C.B.: Können Sie etwas zum Juryprinzip sagen?
M.L.: Die Jury setzte sich immer in der Mehrzahl aus Fachleuten der Museen und Galerien zusammen. Die AG war mit ein bis zwei Vertretern dabei, die NGBK meist vertreten durch ihre Geschäftsführerin.
C.B.: Waren die Leute von außerhalb ein Zugewinn?
M.L.: Es ist notwendig, das Urteil in andere Hände zu legen, wenn man selbst am Prozess entscheidend mitgewirkt hat und mit Erwartungen gefüllt ist.
C.B.: Heute ist dieser Wettbewerb einer der wenigen mit festgelegten Künstlerhonoraren. Wie kam es dazu?
M.L.: Nach zwei finanziell sehr unübersichtlich gewordenen und aus meiner Sicht überteuerten Projekten, habe ich den Vorschlag gemacht, Honorar und Ausführung zu trennen. So konnte nach den bestmöglichen und kostengünstigsten Lösungsvarianten der Projekte gesucht werden. Kaum einer der Künstler hatte ja je in solchen Dimensionen oder mit den plötzlich notwendig werdenden Technologien gearbeitet.
Die offene Betreuung und gemeinsame Recherchen führten zu Ersparnissen, die ein zusätzliches Projekt ermöglichten. Ganz nebenbei waren Honorare von Sachkosten auch vertraglich getrennt worden, und die KSK-Gebühren sanken auf das tatsächlich richtige Maß.
C.B.: War das Festhonorar nicht auch dafür da, den Wettbewerb durchsichtiger zu machen?
M.L.: Wir haben den Künstlern signalisiert: Ihr bekommt ein Honorar, ihr müsst nichts zusetzen, um auf dem Bahnhof realisieren zu können, aber ihr könnt euch hier auch keine goldene Nase verdienen, nur weil die materielle Realisierung teuerer ist als bei einem anderen Projekt. Alle ausgewählten Ideen wurden gleich geachtet und honoriert, seien es die geringfügig veränderten Bänke oder das große grüne Meer aus Lichtprojektionen. Dem Projekt hat dieses Verfahren ein gutes Arbeitsklima und Transparenz gebracht.
C.B.: Gab es seinerzeit noch eine spürbar unterschiedliche Herangehensweise von ost- und west-sozialisierten Künstlern und Organisatoren?
M.L.: Die Arbeit in den AGs, die ich erlebt habe, unterschied sich sehr. Schon deshalb, weil die AG in ihrer Entstehung, der Tradition des Ostprojektes, mehrheitlich aus Künstlern bestand. Künstler, die dort auch realisiert hatten und das Projekt für wichtig hielten und sich deshalb einbrachten. Da ging es hauptsächlich um inhaltliche Diskussionen über Themen. Die formale Wettbewerbsabwicklung konzentrierte sich auf die Wahl der Jury. Der Rest war Routine. Die Diskussionen wurden andere, als, ich glaube es war 1999, sämtliche Künstler sich aus der AG verabschiedet hatten, und nur noch Kunsthistoriker und Kuratoren in der Gruppe agierten. Da spielten theoretische und reflektierende Diskussionen eine viel größere Rolle. Da wurde über Kunst im Stadtraum im Allgemeinen und die politische Verortung des Projektes viel mehr diskutiert. Die Gespräche in der alten AG waren für meinen Geschmack bodenständiger, unmittelbarer und emotionaler, was sicherlich auch im Berufsstand der Mitglieder begründet lag.
C.B.: Können Sie etwas zur Wahrnehmung aktueller Tendenzen innerhalb des Wettbewerbs sagen?
M.L.: Der Weg vom Tafelbild hin zum multimedialen Projekt im Bahnhofsraum entsprach dem Mainstream der 90er Jahre. Insofern hat sich der Wettbewerb den aktuellen Bewegungen geöffnet. Alles liegt aber letztendlich an den eingereichten Ideen, die der Jury zur Auswahl vorliegen.
C.B.: Zwischen den Wettbewerbsaufgaben wie „Hund ist extra“ und „Kommunikationsstrukturen“ ist ja schon ein gewaltiger Unterschied.
M.L.: „Hund ist extra“ bringt Assoziationsimpulse gleich mit. Eine typische Idee von Künstlern, die deren Lust am spielerischen Finden auf der Bildebene dokumentiert. Die „Kommunikationsstrukturen“ wenden sich an ganz andere Künstlertypen – analytisch, theoriesicher, rational reflektierend, dann Bilder suchend. Und sie stammen vermutlich von Leuten des reflektierenden Gewerbes.
C.B.: Hat die Arbeitsgruppentätigkeit auch finanziell in Ihr Leben eingegriffen?
M.L.: Na zum Glück. Die Arbeit wäre ohne Entschädigung gar nicht zu bewältigen gewesen. Es war ein paar Jahre lang neben dem Studium mein Beitrag zum Familieneinkommen.
C.B.: Hat es Sie auch künstlerisch geschult?
M.L.: Intensive Begegnungen mit den Künstlern und Kollegen, die Fragen um Kunst im öffentlichen Raum, die Diskussionen, Gespräche und Fragestellungen haben mich mitten hinein in die zeitgenössische Kunst geführt. Das ist ein beträchtlicher Gewinn, den ich gar nicht hoch genug schätzen kann.
C.B.: Warum haben Sie dann aufgehört?
M.L.: Ich habe die Geschäftsführung des Chemnitzer Kunstvereins übernommen.
C.B.: Hat es Ihre Karriere gefördert, in der U2-Arbeitsgruppe gearbeitet zu haben?
M.L.: Sicher. Das Projekt ist mit gutem Ruf auch in Chemnitz bekannt gewesen. Durch seine Größe hat es Erfahrungen ermöglicht und Fähigkeiten entwickelt, die mir jetzt von Nutzen sind: weitsichtig zu handeln, kooperativ zu sein, den Austausch zu suchen, die inhaltliche Gestalt von Konzepten zu entwickeln. Ich habe gelernt, was man Künstlern vorgeben und was man zutrauen kann, was praktisch funktioniert, was besser eine schöne Idee bleiben sollte.
C.B.: Was ist das für eine Arbeit, die Sie heute haben?
M.L.: Zum einen realisiere ich gemeinsam mit meinem Kollegen ein Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm für eine 700qm große Galerie mit dem Schwerpunkt auf aktueller sächsischer Kunst. Die zweite Aufgabe umfasst die Betreuung einer großen Kunstsammlung sächsischer Kunst nach 1945 und deren Präsentation auf einer zusätzlichen Ausstellungsfläche.
C.B.: Haben Sie heute in Chemnitz noch etwas mit „Kunst im öffentlichen Raum“ zu tun?
M.L.: Ja. Ich habe mir vorgenommen, mich mit Kunstprojekten in die aktuellen Diskussionen zur Stadtentwicklung einzuklinken. In diesem Frühjahr lief das „Chemnitz CityResort“, worin sich die Künstler mit der neuesten Baugeschichte der Stadt auseinander setzten.
C.B.: Ich kann mir vorstellen, dass es dabei nicht um Stadtmöblierung von Künstlern ging.
M.L.: Ich habe bei meinen U2-Projekten gelernt, dass Künstler mit den städtischen Situationen grundsätzlich anders umgehen und andere Fragen stellen, als Leute aus der Verwaltung oder gelernte Planer, die sonst den Diskurs bestimmen. Einer der wichtigen Punkte bei dem CityResort war, eine Gesprächsebene und eine Offenheit in jede Richtung zu erzeugen, so dass die Planer die Künstler ernst nehmen, und diese wiederum sich auf das bereits vorhandene Gedankenniveau einlassen und dann darüber nachdenken.
Das Interview führte Christoph Bannat
© 2006 NGBK